2. bis 5. Mai 2022. Jetzt hat es mich doch erwischt – Blasen an beiden Füßen! Ich hatte nicht mehr damit gerechnet, nachdem ich über eine Woche ohne größere Beschwerden gewandert war. Nun sitze ich hier in Belorado im Café, mache einen Ruhetag und nutze die Zeit am Computer. Die alte Herberge hat mich um 8 Uhr rausgekehrt, und die neue macht erst um 13 Uhr auf. Der Ruhetag bedeutet auch Abschied von meiner bisherigen Pilgergruppe. Christiane und Andreas gehen ebenso weiter Richtung Burgos wie die Australier Deborah und Robert, mit denen ich jeden Abend viel Spaß hatte. Diana, die vierte aus unserem Kleeblatt, haben wir in Belorado wieder getroffen. Ihre Blasen haben sich gebessert, sie ist heute früh auch aufgebrochen.

Ein wenig traurig bin ich schon. Immerhin haben wir mehr als 200 Kilometer gemeinsam zurückgelegt. Zum Glück treffen am Nachmittag die Briten um Rachel ein, so dass ich wieder Gesellschaft bekomme. Weite Passagen der Etappen zwischen Logroño und Nájera sowie weiter nach Belorado bin ich ohnehin allein gegangen, da ich das Tempo von Andreas und Christiane nicht halten konnte. Normalerweise sind solche Passagen gut, um ins Denken zu kommen, aber der Schmerz überlagerte das Denken, so dass es mit zunehmender Kilometerzahl nur noch ums Ankommen ging. Sehr hilfreich waren die Wanderstöcke, die ich mir in Pamplona gekauft habe. Sie haben mich gerettet. Ich verstehe wirklich nicht, wie man den Rat geben kann, dass es auch ohne geht. Für mich wäre das unmöglich.
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Nun zu den Etappen, wobei ich vor Logroño beginne, weil ich im Überblicksbeitrag von Etappe 5 bis 8 einiges weggelassen habe: Von Estella liefen wir in Etappe 7 über das eigentliche Etappenziel Los Arcos hinaus nach Sansol, weil es in Los Arcos keine Unterkünfte mehr gab. Ich habe immer mehr den Eindruck, dass der Camino seit Pamplona voller ist als um diese Jahreszeit üblich. Das mag damit zusammenhängen, dass sich durch Corona viele Menschen nicht dazu gekommen sind, ihre geplante Pilgerreise zu machen und sie jetzt nachholen. Jedenfalls ist die Knappheit an Unterkünften zu bemerken. Buchen am selben Tag schlägt meist fehl, so dass ich jetzt ein bis zwei Tage Vorlauf einplane.
In Sansol übernachteten wir im Palacio von Hospitalero José-Maria – ein Mensch, von dem die Briten sagen würden: He is a character. Es begann damit, dass der ältere Herr uns umständlich mit dem Google-Übersetzer eincheckte, da er nur Spanisch spricht und mein Spanisch nicht so recht akzeptierte. Das änderte sich dann aber schnell, als er feststellte, dass es für einfache Alltagskonversationen ausreicht. Ich saß im Restaurant, weil dort das W-Lan besser ist, als die Amerikanerin Karen einchecken wollte. José-Maria legte das Handy mit dem Google-Übersetzer beiseite und bat mich mit den Worten “Junger Mann, du sprichst ja Spanisch” herbei. Ich dolmetschte dann Spanisch-Englisch und zurück, was eigentlich gar nicht nötig gewesen wäre, da Karen in Deutschland lebt und passables Deutsch spricht, was ich aber erst in Logroño erfuhr. Auch eine telefonische Reservierung durfte ich entgegennehmen, da José-Maria das Handy einfach an mich weiterreichte. Als ich das in meinem Zimmer erzählte, lachten die Italienerin Alessandra und der Hispano-Amerikaner Julio: Ihnen war es genauso ergangen!

Das Abendessen brachte uns dann einen ganz anderen José-Maria: Aus dem schroff und leicht unbeholfenen wirkenden älteren Herrn wurde ein äußerst charmanter Gastgeber, der uns Pilger auf rührende Art und Weise umsorgte. Er kochte uns ein Essen, das er als Kind an Weihnachten bekommen hatte: Eine Artischockensuppe mit Speck und die leckerste Tortilla, die ich bisher auf meinem Camino essen durfte.
Zum Dessert setzte sich José-Maria an das spanischsprachige Ende der Tafel und begann zu erzählen. Julio und ich übersetzen seine Worte schnell ins Englische und Deutsche. Der Palacio, in dem wir wohnten, gehörte José-Marias Familie bis in die 60er-Jahre und wurde dann an ein englisches Paar verkauft. Erst vor wenigen Jahren erwarb José-Maria den Palacio zurück und hat ihn seither in mühevoller Arbeit mit eigener Hände Arbeit renoviert und umgebaut. Er ist noch längst nicht fertig, aber der Weg ist sein Ziel. Zufriedenheit kommt für José-Maria nicht aus dem Fertigwerden, sondern aus dem Tun.
Inzwischen hingen wir alle an José-Marias Lippen, und der alte Mann beschenkte uns mit Weisheit. Er muss gespürt haben, dass manche auf dem Camino nicht nur sich selbst, sondern auch einen neuen Weg für ihre Partnerschaft suchen. Es gab uns dafür folgende Sätze auf den Weg: “Versuche nicht, deinen Partner zu ändern. Das funktioniert nicht. Es endet in der Scheidung. Kritisiere auch niemals deinen Partner, sondern kritisiere immer dich selbst.” Wir waren alle berührt. Alessandra überlegte sofort, doch nicht nach Afrika zurückzugehen, um dort Hotelteams zu trainieren, sondern im Palacio anzufangen. Als ich nach dem Essen allein in den Speisesaal zurückkehrte, um ihn in Richtung Hof zum Wäscheständer zu durchqueren, sah ich José-Maria durch ein Fenster in seiner Küche, wie er von Hand und ganz allein den Abwasch erledigte. Dabei lächelte er.
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Logroño ist die Hauptstadt der Weinregion Rioja. Wir erreichten sie am 1. Mai nach einer kurzen Etappe, um live eine Demo der spanischen Anarcho-Syndikalisten von der CNT zu erleben. Dieser Gewerkschaftsbund boykottiert die Betriebsratswahlen in Spanien und setzt auf selbstverwaltete Betriebe. Die CNT spielte im Widerstand gegen Franco eine wichtige Rolle, wurde 1939 zerschlagen und konnte nach der Wiederzulassung ab 1967 nicht wieder an ihre alte Bedeutung anknüpfen.

Die bunte Truppe, die wir inzwischen waren, traf sich am Abend in einem Tapaslokal in der Altstadt, und wir freuten uns auch darüber, dass unsere Unterkunft, das Winederful Café, anders als viele Unterkünfte nicht um 22 Uhr die Türen schließt. Am nächsten Morgen ging es weiter nach Nájera, wo wir unterwegs kurz hinter Logroño an einem Stausee Bekanntschaft mit der “Jungfrau des Wahnsinns” machten. Unter ihrem Bildnis sitzt ein gewisser Marcelino, der sich wie ein Pilger des Mittelalters kleidet und schöne Stempel kostenlos sowie frische Früchte für einen Euro abgibt.

Auf die nächste Etappe von Nájera nach Santo Domingo de la Calzada freute ich mich schon deswegen, weil sie für mich in einem Parador enden würde. Die Paradores sind eine spanische Hotelkette, deren Betriebe meist in alten Bauwerken wie Klöstern und Burgen angesiedelt sind. In Santo Domingo war es die ehemalige Pilgerherberge aus dem 12. Jahrhundert, die bis Mitte der 60er-Jahre als solche diente und dann zum Luxushotel umgebaut wurde. Die Übernachtung dort kostete zwar das Zehnfache einer Pilgerunterkunft, aber das war es mir wert. Ein unanständig großes Zimmer, in dem mein Rucksack verloren wirkte, ein breites Bett und ein Bad mit Badewanne! Hier kam zum ersten Mal meine Wäscheleine mit den Saugnäpfen am Ende zu Einsatz, denn das Bidet eignete sich hervorragend zur Handwäsche meiner abnehmbaren und dreckverspritzten Hosenbeine.
Das Kontrastprogramm folgte am nächsten Tag in Belorado im in der Herberge Cuatro Cantones. Wieder eine Massenschlafsaal mit mehr als 20 Betten, zwei immerhin lauwarme Duschen ohne Temperaturregler. Dafür entschädigten nicht nur der ausnehmend freundliche Empfang durch die Hospitaleros, sondern auch das hervorragende Pilgermenü für 13,50 Euro. Allgemein kann ich sagen, dass ich mit dieser Wahl noch nie enttäuscht wurde. Schwierig ist es auf dem Camino nur für vegetarisch oder vegan lebende Pilger. Für sie ist das Angebot mehr als dürftig. Aber wer Fleisch isst und in Stockbetten im Schlafsaal übernachten kann, für den ist der Camino zumindest kein finanzielles Abenteuer. Mit 50 Euro Budget pro Tag kommt man locker hin, auch weil beispielsweise der Milchkaffee mit 1,50 Euro billiger ist als in Deutschland. Es sei denn, man schlägt über die Stränge und leistet sich einen Parador. Der nächste ist in Leon und wäre in elf Tagen erreichbar…
Ein Gedanke zu „Etappe 9 bis 11: Von Logroño nach Belorado – Blasen und ein Ruhetag“