9. bis 14. Mai 2022. Nach dem Ruhetag in Burgos habe ich mich aufgemacht, die nordspanische Hochebene, genannt “Meseta”, zu durchqueren. Meinen Plan, schon um 6 Uhr loszugehen, habe ich nicht umgesetzt, da ich doch nicht im Dunkeln loslaufen wollte. Es war auch nicht notwendig, da die Temperaturen von bis zu 27 Grad durch den Wind gemildert wurden, so dass die langen, streckenweise eintönigen Passagen erträglicher wurden. Von Burgos lief ich in Etappen von 31, 28, 26, 24, 23 und 32 Kilometer insgesamt mehr als 160 Kilometer in meinen Trekkingsandalen, was der Heilung der Blasen zuträglich war.
Am 13. Mai erreichte ich Sahagún und damit die geografische Mitte meines Jakobswegs. Es ist Konsens, dass Sahagún die halbe Strecke markiert, wenn man in Saint-Jean-Pied-de-Port startet. Aber wo genau die Mitte liegt, kann kein Mensch verlässlich sagen, weil es immer wieder Varianten des Weges gibt, die sich naturgemäß auf die Länge des Wegs und den Mittelpunkt auswirken. Es gibt jedenfalls zwei Tore, unter denen man sich fotografieren lassen kann – ich habe beide mitgenommen.

Jeder hat seine Art, mit der Meseta umzugehen. Da sie im Gegensatz zu den ersten Etappen bis Pamplona kein sehr schwieriges Geläuf bietet, das Konzentration erfordern würde, kann man drei Dinge tun: entweder die Eintönigkeit meditativ annehmen oder sich die Zeit mit Musik und Hörbüchern kurzweiliger gestalten oder das Gespräch mit anderen Pilgern suchen. Ich habe alles drei getan.
Einen Hörbuchtipp möchte ich weitergeben: Auf Basis zweier unabhängiger Empfehlungen von meiner Herzensdame und von einer ehemaligen Kollegin (Dank an Tanja und Sylvia) habe ich “Achtsam morden am Rande der Welt” von Karsten Dusse gehört. Die Handlung spielt zum Teil auf dem Jakobsweg, und ich fand das Buch sehr amüsant. Ich kann dem Autor zudem bescheinigen, dass er präzise recherchiert hat, denn die Beschreibungen der einzelnen Szenen, etwa die Vorstellungsrunde in der Herberge von Orisson, stimmten bis ins Detail.
Sehr interessant war mein Gespräch mit einem katholischen Geistlichen aus Nordamerika. Ich habe ihn zu drei Themen befragt, um seine Einschätzung kennen zu lernen. Thema Nummer eins waren die Kindesmissbrauchsskandale: Er ist wie viele katholische Laien auch sehr unglücklich darüber, wie seine Kirche damit umgeht. Auch er wünscht sich eine authentische Entschuldigung und mehr Empathie mit den Opfern.
Das zweite Thema war der Zölibat: Ich möchte hier nicht die altbekannten Argumente zum Zölibat wiederkäuen, sondern neue oder zumindest mir noch nicht bekannte Aspekte einführen. Als Volkswirt schien mir die ökonomische Komponente besonders interessant: Dürften Priester heiraten, müssten Sie eine Familie versorgen können und somit wesentlich besser bezahlt werden, als das heute der Fall ist. Dies würde auch die reiche katholische Kirche nicht ohne weiteres stemmen können. Auch aus diesem Grund würde vermutlich allein die Abschaffung des Zölibats nicht zu einem sprunghaften Anstieg der Anwärter auf das Priesteramt führen. Dennoch hielt mein Gesprächspartner es nicht für ausgeschlossen, dass die katholische Kirche den Zölibat für optional erklären könnte.
Die Ordination von Frauen hingegen schloss er für seine Lebensspanne aus. Die Erklärung fand ich überzeugend: In Europa oder Nordamerika würden Frauen im Priesteramt der katholischen Kirche sicher akzeptiert. In anderen Teilen der Welt, in denen es viele Katholiken und ein hohes Bevölkerungswachstum gebe, sei das nicht unbedingt so. Da der Papst salopp gesagt seinen Laden zusammenhalten muss, wird er keine Maßnahmen lostreten, die zu große Zentrifugaltendenzen verursachen.
Zurück zur Meseta: Trotz ihrer Eintönigkeit bietet auch sie ein paar Überraschungen und Abwechslungen. Hinter Boadilla del Camino und Frómista läuft man am Canal de Castilla entlang, der nicht nur eine wasserbautechnische Meisterleistung des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts darstellt, sondern auch die Fauna und Flora der Meseta bereicherte. Ich habe zum Beispiel selten so viele verschiedene Vogelstimmen gehört.
Die Ortschaften der Meseta liegen regelmäßig in Senken, was dazu führt, dass man sie sehr lange nicht sieht und an der Aussagekraft der Camino-Apps auf dem Smartphone zweifelt, bis dann meist vorsichtig ein Kirchturm auftaucht. Eine eigene Erwähnung wert ist das über 17 Kilometer schnurgerade verlaufende Stück Weg hinter Carrión de los Condes. Ich bin noch nie im Leben so lange geradeaus gelaufen. Man hat gerade da den Eindruck einer Pilgerautobahn.
Lieber Thomas,
freut mich, dass Dir „Achtsam morden am Rande der Welt“ gefallen hat.
Kurzweilig und lesenswert ist Dein Blog.
Wünsche weiterhin buen camino und keine weiteren Blasen!
Herzliche Grüße
Sylvia