Etappe 20 bis 27: Vom höchsten Punkt zum längsten Abstieg - die Zielgerade ruft

15. bis 22. Mai 2022. Nach rund 180 Kilometern habe ich die Hochebene namens Meseta verlassen. Die Stadt Leon markiert so etwas wie einen Endpunkt, auch wenn es bis Astorga noch recht flach weitergeht. Bevor wir abermals die Region wechseln und Kastilien und Leon verlassen, um Galicien zu erreichen, hält der Camino aber noch drei Spezialitäten für uns bereit: Das eiserne Kreuz, den Abstieg nach Ponferrada und den Aufstieg nach O Cebreiro. Auch die Blasen meldeten sich wieder.

Aber der Reihe nach: Leon ist in so ziemlich allem die Steigerung von Burgos, bei der Kathedrale angefangen. Trotzdem fühlte ich mich in Burgos und auch in Logroño wohler, weil hier alles ein Stück übersichtlicher und familiärer zugeht. Eigentlich wollte ich mir in Leon meine zweite Übernachtung in einem Parador gönnen. Aber 350 Euro pro Nacht lagen dann doch deutlich über dem, was ich auszugeben gewillt war. Da ich nach Leon nur eine 12-Kilometer-Etappe gehen musste, hatte ich dort immerhin quasi einen Ruhetag.

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Der Bischofspalast von Astorga: Sieht etwas nach Disneyland aus, aber das katalanische Architekturgenie Antoni Gaudí war definitiv früher dran. Das Bauwerk ist eines seiner wenigen außerhalb Kataloniens.

Über die Bischofsstadt Astorga, deren bemerkenswertestes Bauwerk eine frühe Arbeit des katalanischen Architekturgenies Antoni Gaudí ist, ging es weiter über Foncebadon zum höchsten Punkt des Jakobswegs, dem eisernen Kreuz. Es steht auf einem circa 15 Meter hohen Baumstamm, und viele Pilger legen hier auf 1500 Meter Höhe einen Stein ab, den sie aus der Heimat mitgebracht haben. Damit werfen sie symbolisch ihre Sorgen ab und können sich unbeschwert dem Rest des Camino widmen.

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Das eiserne Kreuz markiert den höchsten Punkt des Jakobswegs.

Ganz und gar nicht unbeschwert fand ich den 900 Höhenmeter währenden Abstieg nach Ponferrada über Steinflächen und Geröll. Ich kann nur immer wieder zwei Dinge hervorheben: Wir hatten bis jetzt unverschämtes Glück mit dem Wetter, und einige Passagen des Jakobswegs, so auch diese, wären bei starkem Regen kaum begehbar bis lebensgefährlich, zumindest für ungeübte Wanderer. Natürlich hätte ich auch auf die enge Straße ausweichen können, aber das wäre aus anderen Gründen kaum weniger gefährlich gewesen. Deshalb hier der Hinweis: Eine gewisse Grundkonstitution und Trittsicherheit sind Voraussetzungen auch für den als einfach geltenden Camino francés, und wenn das Wetter nicht mitspielt, sollte man besser die nächste Herberge aufsuchen.

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Ein Abstieg auf diesem Untergrund kann bei Regen gefährlich werden.

Nachdem sich mein Fluchen über den Abstieg in Ponferrada langsam gelegt hatte, kamen die Blasen an den kleinen Zehen zurück. Kein Wunder: Wenn man mehrere Stunden beim Abstieg in den Wanderstiefeln immer wieder vorne anstößt, muss man auf die Reaktion der Füße nicht lange warten. Die flache Etappe von Ponferrada nach Villafranca de Bierzo gab den Zehen Gelegenheit zur Erholung. Auf der dann folgenden Königsetappe von Villafranca nach O Cebreiro hatte ich mir dann folgende Taktik zurechtgelegt: Die ersten 20 Kilometer in Trekkingsandalen gehen, um die Zehen zu schonen, und dann den Anstieg auf den letzten 8 Kilometern von 650 auf 1300 Höhenmeter in Wanderstiefeln zurücklegen, inklusive vorherigem Sockenwechsel. Das klappte gut, die Zehen sind zumindest nicht schlimmer geworden. Meine Karriere als Fußmodell ist trotzdem erstmal in weite Ferne gerückt, aber bis nach Santiago waren es jetzt nur noch 155 Kilometer.

Die Etappe von O Cebreiro nach Triacastela brachte neben zwei kürzeren, aber steilen Anstiegen einen zehn Kilometer langen Abstieg, der aber nicht mit dem vom eisernen Kreuz nach Ponferrada zu vergleichen war. Der Untergrund war griffig, und so genügte es, die Wanderstiefel etwas fester zu schnüren, um die Zehen vor dem Anstoßen zu bewahren. Auch hier waren meine in Pamplona angeschafften Wanderstöcke wieder Gold wert.

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Es wird meinen Lesern nicht entgangen sein, dass die Abstände zwischen meinen Artikeln immer größer werden. Statt eines politischen Exkurses will ich heute dazu etwas schreiben. Auch wenn ich mich jetzt ans Wandern gewöhnt habe und 25 Kilometer Strecke in der Regel keine große Herausforderung mehr darstellen, stellt sich doch am Abend immer eine gewisse Müdigkeit ein. Auf dem Camino sind wir spätestens um 22 Uhr im Bett und stehen meist zwischen 6 und 6.30 Uhr auf. Außerdem kenne ich inzwischen so viele Leute (und es kommen jeden Tag neue dazu), dass es mir schwerfällt, mich zum Schreiben zurückzuziehen, wenn alle anderen zusammensitzen. Die Strecken auf dem Camino gehe ich nun etwa zur Hälfe allein. Die gemeinsamen Wege teile ich mit den unterschiedlichsten Personen – vom pensionierten Feuerwehrmann Dave aus Birmingham über den Theatermanager Rick aus Australien bis zum Priester Dat aus New York. Ich treffe hier Menschen, denen ich sonst niemals begegnet wäre, und das ist mit das Beste am Camino.

Auch in den Bars und Restaurants lernt man leicht Leute kennen: Gestern Abend zum Beispiel bekam ich spontan Appetit und setzte mich an den Tisch von Pedro aus Valladolid, der mich auf den letzten Etappen ein paar Mal überholt hatte. Wir kannten uns also vom Sehen, aber das genügte. Pedro spricht drei Sprachen: Spanisch, Spanisch und Spanisch. Ich verließ meine Komfortzone und unterhielt mit eine Stunde mit ihm. Es ist erstaunlich, was man alles abrufen kann. Pedro erklärte mir auch, warum zurzeit kaum Spanier auf dem Camino unterwegs sind. Neben der Osterwoche nutzen die Einheimischen vor allem die Monate Juli und August. Da ist es zwar am wärmsten, aber da haben die Spanier frei. Im Moment jedoch sind die anglophonen Pilger klar in der Mehrheit, und so spreche ich 80 Prozent des Tags Englisch.

Am liebsten sind mir die Gespräche mit den Briten und Australiern, weil ich deren Humor mag; die Gespräche mit US-Amerikanern hingegen laufen leider sehr oft nach einem vorhersehbaren Abfrageschema ab. Zum Glück gibt es genügend Gegenbeispiele, so dass mir Jon, Peggy und all die anderen tollen Menschen mit US-Pass, die ich kennenlernen durfte, meine vielleicht zu generalisierende Kritik an ihren Landsleuten hoffentlich verzeihen. Das Wichtigste aber ist: Einen richtigen Deppen habe ich auf dem Camino noch nicht getroffen, und ich hoffe, dass das bis zum Schluss so bleibt.

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